Die Silvesternacht – oder wer interessiert sich eigentlich für die Opfer?
Es gibt Tage, da muss ich abschalten. Weil mir einfach übel wird, wenn ich Nachrichten sehe oder mich in den sozialen Medien aufhalte. Die Reaktionen und Debatten, die auf die fürchterlichen Übergriffe von Köln folgten, sind mal wieder ein solcher Anlass. Denn bei allem, was in der Öffentlichkeit diskutiert wird, über welche Medien auch immer – um die Opfer geht es den Diskutanten fast nie. Das macht mich wütend.
Denn so sehr ich schockiert bin über das, was da in Köln, Hamburg oder Stuttgart in der Silvesternacht geschehen ist, so sehr ich mir Konsequenzen wünsche – ich bin nicht missbraucht worden. Ich bin nicht das Opfer. Meine Befindlichkeiten, und die Befindlichkeiten aller anderen haben hinter den Interessen der Opfer zurückzustehen – gleich ob man Politiker, Journalist, Netzaktivist, „besorgter“ Bürger oder was auch immer ist.
So habe ich aus den Berichten der letzten Tage beispielsweise nicht entnehmen können, ob es eine spezielle Beratung und Therapieangebote für die betroffenen Frauen gibt. Wird das angeboten? Steht bei der bisherigen Aufklärung wirklich das Interesse dieser Frauen im Mittelpunkt? Man sollte sich die Geschehnisse mal aus Sicht der Opfer vor Augen führen: Auf einem öffentlichen Platz wurden sie eingekreist, bedroht, genötigt, beklaut, angefasst, sexuell missbraucht bis hin zu Vergewaltigungen – und das ganze mit Polizisten in der Nähe, die sich selbst hilflos und überfordert fühlten, und oft die Frauen gedemütigt sich selbst überließ. Dieses Erlebnis ist gleich mehrfach traumatisch, die Hilflosigkeit, die Demütigung in einem der öffentliche Raum, von einer Vielzahl von Tätern – um dann auch noch von Polizei und Gesellschaft allein gelassen zu werden.
Wer sich angesichts dieser Situation die Opfer aufs Neue missbraucht, um seine politische Agenda, die eigenen Gewalt- oder gar Sexualphantasien zu befriedigen, der macht sich genauso zum Täter. Der missbraucht sie erneut, immer und immer wieder. Es ist einfach widerwärtig, dass ein großer Teil des politischen Führungspersonals, ganz zu schweigen vom schäumenden Mob, sich und seine Überzeugungen in den Mittelpunkt stellt und dabei die Opfer ignoriert. Denn bevor politische Konsequenzen gezogen werden, sollten doch zunächst folgende Dinge im Vordergrund stehen:
- Beratungs-/Therapieangebote
- Ermittlung, Verurteilung/Abschiebung der Täter
- Aufklärung, warum die Polizei nicht in ausreichendem Maße eingegriffen hat bzw. nicht genügend Personal zur Verfügung stand.
- Aufklärung der Täterstrukturen: Gab es ein geplantes/koordiniertes Vorgehen? Waren die Täter vorher polizeilich bekannt? Wenn ja, warum wurde zuvor nichts unternommen? Woher kommen sie, woher kennen sie sich?
Man kann die Silvesternacht nicht ungeschehen machen. Es ist aber die Pflicht der Behörden und der Gesellschaft, zu unterstützen, aufzuklären, die Täter zu bestrafen, und dann, wenn man über ausreichend Fakten verfügt, dann die politischen, personellen und gesellschaftlichen Konsequenzen zu ziehen. Sei es bei der Polizei, bei der Integration, im Sexualstrafrecht, usw. Aber eben erst, wenn die Opfer wissen, wer die Täter waren, warum und weshalb ihnen diese Verbrechen widerfahren konnten, wer dafür im einzelnen die Verantwortung trägt – und dass man alles dafür tun wird, damit sich diese Silvesternacht nicht wiederholt. Das ist jetzt wichtig für die derartig gedemütigten Frauen. Nicht das eigene Weltbild, nicht die Redezeit von Diskutanten in Talkshows.