Brüssel: Nach dem Terror

Ich blicke auf den Eingang der Metro Maelbeek, meiner Metrostation, aus der Distanz. Es ist bereits dunkel, das Chaos der Stunden nach dem Attentat hat sich gelegt. Die Straße vor der Metro bleibt abgesperrt. Ich nehme mir meine Zeit, lasse die Szene auf mich wirken. Es ist wichtig für mich, man will dem Grauen ein Bild geben, es verarbeiten, und später ablegen.

Nach den Anschlägen am Morgen hatte es einige Gerüchte und Falschmeldungen gegeben, und während mich die Meldungen über die Anschläge selbst schockierten, machten mich diese Gerüchte erst richtig nervös. Die Unwissenheit, ob weitere Anschläge bevorstehen, die Furcht, es könnte noch weitere Opfer geben – damit lässt sich schwieriger umgehen als mit dem eigentlichen Grauen der Anschläge. Und wie man damit richtig reagiert, haben die Brüsseler vorbildlich gezeigt. So wurde in der Stunde der Not geholfen, wo man helfen konnte: Taxifahrer meldeten sich spontan zum Dienst und holten die Leute vom Flughafen gratis ab. Innerhalb weniger Stunden war genug Blut gespendet worden, um die Versorgung der über 200 Verletzten zu gewährleisten. Hotels und Privatleute boten den in Brüssel Gestrandeten Übernachtungsmöglichkeiten, es wurden Fahrgemeinschaften gebildet. Man stand und steht zusammen.

Ich gehe weiter, zum Schuman, dort wo die EU-Kommission sitzt. Es ist dort leerer als sonst, eine Reihe von Fotojournalisten und Kamerateams filmen Eindrücke vom jüngsten Schauplatz des Terrors. Ich betrachte die Journalisten kritisch – selten bin ich mit dem einverstanden, was den Leuten über Brüssel, über Europa berichtet wird. Ich blicke vom Schuman auf die gesperrte Rue de la Loi, wo zwei weitere Eingänge zur Metro Maelbeek sind. Einsatz- und Bergungsfahrzeuge stehen dort, es wird wohl noch Tage dauern, bevor der Tatort freigegeben werden kann. Schließlich komme ich im Ausgehviertel hinter der Europäischen Kommission an. Wenige Leute auf der Straße, aber einige Kneipen sind gut gefüllt. Ich gehe zum Irish Pub, in dem ich regelmäßig Skat spiele. Zwei Freunde stehen vor der Tür, wir begrüssen uns und ich trinke noch einen Kaffee.

Die Stimmung ist eine Mischung aus Betroffenheit und Erleichterung – denn bislang scheint es niemanden aus dem unmittelbaren Bekanntenkreis getroffen zu haben. Wir tauschen unsere Einschätzungen aus, dass am Sitz von EU und NATO immer mit solchen Anschlägen zu rechnen ist, dass gerade nach der Verhaftung des Paris-Attentäters Salah Abdeslam die Gefahr groß war, weil sein Netzwerk befürchten könnte, aufzufliegen. Allen ist das Bedürfnis anzumerken, sich auszutauschen, unter Menschen zu kommen, das Geschehene zu verarbeiten. Dabei macht sich eine gewisse Entschlossenheit breit, weiterzumachen, sich nicht einschüchtern zu lassen, dem Terror keinen Millimeter zu weichen.

Als ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, gehe ich an der Kommission und am Europäischen Rat vorbei zurück in mein Viertel. Es klingt etwas paradox, aber seit den Parisanschlägen habe ich nicht mehr so wenige Soldaten vor den Gebäuden der Europäischen Institutionen gesehen wie in dieser Nacht. Sie werden woanders gebraucht, und das verdeutlicht eine Wahrheit dieser Anschläge: Absolute Sicherheit gibt es nicht. Ich denke an meine lettische Bekannte, die dem Anschlag in Maelbeek nur um 10 Minuten entkommen ist, weil sie einfach früher unterwegs als sonst. Oder an die Schilderungen einer Neuseeländerin, die in einem der Kommissionsgebäude an der Metro arbeitet, wo die Verletzten, blutend und im Schockzustand, im Empfangsbereich untergebracht und behandelt wurden – und die betonte, wie sehr diese unmenschlichen Ereignisse das Beste in den Menschen hervorbringt, wie groß das Bedürfnis war, den Opfern beizustehen.

Ich überquere den Place Jourdan, die Restaurants sind relativ leer, die Kneipen relativ voll. Die Menschen reden, kommen zusammen, lachen. Die Behörden haben offenbar die richtigen Konsequenzen aus dem „Lockdown“ letzten November geschlossen, die Einschränkungen des öffentlichen Lebens wurden bereits ab dem Nachmittag sukzessive aufgehoben. Es gibt natürlich weiter erhöhte Sicherheitsmaßnahmen, aber die Leute sollen Ausgehen dürfen. Damit ist diese bedrückende, abstrakte Angst weg. So kann man die Ereignisse verarbeiten, das normale Leben soll so schnell wie möglich wieder einsetzen. Ein beruhigendes Gefühl, und ich gehe weiter in meine Stammkneipe um die Ecke. Es findet sich hier die typische Mischung von Brüsselern, Alteingesessene, „klassische“ Einwanderer aus Marokko, Italien, Afrika, die „Europäer“. Ich bestelle einen letzten Kaffee, komme ins Gespräch mit einem guten Bekannten, der Belgier ist.

Auch hier sind die Menschen schockiert, betroffen, aber das Leben ist stärker, das Lachen auch. Trotz der Befürchtungen, dass sich Brüssel ändern wird, dass es weitere Anschläge geben könnte. Die Tresenkraft an diesem Abend ist eine junge Schweizerin, und wir kommen schnell ins Gespräch, da mein Bekannter ihre Heimatstadt sehr gut kennt. Das ist Brüssel denke ich, sage ich. Die Welt ist hier versammelt, ob Inder, Pakistaner, Kongolesen, Marokkaner, Brasilianer, Kolumbianer, Kanadier, Amerikaner, Iraner, Syrer, Bulgaren, Dänen, Deutsche, Kroaten… – Brüssel ist die Welt und die Welt ist in Brüssel. Ein Anschlag auf diese Stadt ist ein Anschlag auf die Menschheit, und die Wunden des Terrors werden nur durch Menschlichkeit geheilt werden. Genau wie im Europaviertel gibt es auch hier die Entschlossenheit, gemeinsam zu trauern und gemeinsam zu leben. Bereits Dienstag nachmittags hatten sich viele Menschen vor der Börse zusammengefunden, um ihre Trauer, ihre Solidarität mit Kreide auf den Asphalt zu bekunden. Heute gibt es verschiedene Zusammenkünfte, man will reden, man will sich gegenseitig unterstützen. Das macht Mut, und wenn die Brüsseler den Zusammenhalt stärken, gibt das den Opfern vielleicht den Sinn, den der Terror nie haben wird.

Mit dieser Gewissheit gehe ich nach Hause und bin entschlossen, den nächsten Tag ohne Furcht anzugehen, und dem Terror die Stirn zu bieten, in dem ich weiter für eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft einstehe und dies auch lebe. In Brüssel.

 

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