Jester’s Door

„Jester’s Door“ ist ein sozialistischer Groschen-Kneipenroman, als solcher angelegt, hoffentlich etwas unterhaltsam, humorvoll, nostalgisch…ein comical relief. Er wurde auf starkerkaffee.twoday.net begonnen, und hat auf dieser Seite nun sein neues Heim. Nach und nach werde ich die ersten Episoden hierher übertragen, überarbeiten, zusammenfügen und hier und da neue Geschichten hinzufügen und einsetzen. Neue Episoden folgen dann. Viel Spaß beim neu oder wieder entdecken:-)

Jester‘s Door – Die Kneipe der Narren (1)

Es war ein warmer Sommertag, an dem ich das Jester‘s Door das erste mal betrat. An und für sich eine klassische Eckkneipe, auf die ich in dieser Seitenstraße stieß. Gelegen in einem vierstöckigen Gründerzeitbau, war durch die kaum geputzten Scheiben nur wenig des dunklen Holzmobiliars zu sehen. Ein Schild quietschte im seichten Wind, auf dem eine leicht geöffnete Tür zu sehen war – und eine Narrenkappe, die aus der Öffnung hervorlugte. Neben Guiness wurde auch Flensburger beworben, ich war durstig, und der verbleichte Slogan „Only Socialist pub left between Denmark and Hamburg“ sagte mir zu.

Ich trat ein, staubige Luft und Biergeruch empfingen mich. Eine lange Theke, zwei gelangweilte Typen dahinter. Die Kneipe war deutlich größer, als ich dachte. Hinten gab es eine kleine Bühne, gleich beim Durchgang zu den Toiletten. Über der Bühne hing ein Plakat: „The Worker‘s voice – Only tonight and every night thereafter“. An der Wand rechts hingen Wahlaufrufe für Willy Brandt und einige andere lokale Sozis, ein Che-Poster, der Text der Internationalen in drei Sprachen, Fotos von Anti-Atom-Demos sowie ein Aufruf zur Teilnahme am Sozialistischen Redezirkel Nord. Darunter eine langgezogene Bank, zwei ältere Männer saßen dort wie festgewachsen vor einem Schachbrett. Links gab es einen Flipper und in einem Nebenraum einen Billardtisch, an dem einige Punks und Spätrevoluzzer um ein Hannes Wader Autogramm spielten.

Ich ging zum Tresen, bestellte mir ein Bier. Der Typ hinter dem Tresen war zunächst nicht sehr gesprächig, war aber nicht wirklich unfreundlich. „Nettes Kneipenschild habt ihr da“ sagte ich. Der stämmigere antwortete: „Danke. Kommt bestimmt noch, der Jester. Nach Feierabend.“ Aha?! „Trägt der auch so ein Kostüm?“ Die beiden Wirte grinsten sich an. „Nee,“ sagte der Dünne, „der macht sich nur zum Narren. Jeden Abend, pünktlich ab Acht. Wirst schon sehen.“ „ah, ok.“ Nach acht? Es war gerade mal 16 Uhr durch, solange würde ich bestimmt nicht bleiben, dachte ich. Langsam kam ich mit den beiden ins Gespräch, der stämmigere hieß Jens, den dünnen nannten alle nur Timemaster, Timemaster Ten. Schienen irgendwie hängengeblieben zu sein, die beiden. Aber recht nett. Sie wechselten die Musik, nun lief Fischer Z, und die Punks hatten ihren Spaß, waren aber schon total hinüber und hatten natürlich beim Billard verloren.

Ich war mittlerweile beim zweiten Bier und brauchte dringend was zu essen. Ich fragte nach dem nächsten Döner, worauf mich der Timemaster nur anschaute und sagte: „Gegessen wird zu Hause oder hier, wenn Du hier noch ein Bier trinken willst, kloar?!“ „Äh, ja, was gibt es denn?“ winselte ich etwas eingeschüchtert. Jens reichte mir die Karte, raunzte „schon besser“ und ging zu einem größeren Tisch, den er als reserviert kennzeichnete und einige vorgezapfte Biere bereitstellte. Ich bestellte mir eine Salami Flöte, dann kamen auch schon fünf ziemlich verwegene Gestalten herein. „Jo, Bier is klar, vorwärts Jungs!“ Sie setzten sich an den Tisch, der Timemaster stellte die stehengebliebene Wanduhr richtig ein und die beiden Wirte nahmen an der Sitzung des „Sozialistischen Redezirkels Nord“ teil. Jens drehte sich zu mir um, zeigte mit seinem Finger auf mich und rief: „Du! Komm hier rüber. Du hast noch ne Menge zu lernen, min Jung!“ Ich schluckte und ging zum Tisch.

So vergingen die nächsten beiden Stunden mit Marx und Mao rezitierenden Alt-68ern, Godesberg und der Globalisierungskritik, einem Exkurs über die Sozialisierungsmöglichkeiten nach dem Grundgesetz und der Möglichkeit von Notwehr bei Bankerversagen. Mir schwirrte der Kopf, und ich fragte Jens zwischenzeitlich, ob dieser Laden als Kollektiv funktioniere. Er schüttelte mit dem Kopf, und der Timemaster antwortete, nachdem er die Wanduhr auf Verlangen neu gestellt hatte: „Nee, das haben wir früher mal probiert, aber das hat nun goar nich funktioniert, da haben Jens und ich Nägel mit Köppen jemacht.“ Jens nickte: „Jo, dat is so zehn Jahre her. Seitdem halten wir uns wenigstens über Wasser.“ Was denn außer diesem Lesezirkel noch sozialistisch wäre in diesem Laden, fragte ich sie. „Na, die Band“ sagte der Timemaster und lachte. Jens grinste: „Jo, und dann ist die Bezahlung auch sehr solidarisch. Jeder Stammgast hat nen Zettel, die der armen Schlucker werfen wir am Ende des Monats weg, und die die mehr haben, zahlen halt mehr als auf ihrem Zettel steht. Können sie sich eh‘ nich merken!“ Beide lachten laut. „Wir nennen dat „Robin Hood“ Saufen.“ Er zwinkerte mir zu. „Und wenn wir mal nich genug in der Kasse haben, holen wir die Herren und Damen Abgeordneten ran, die müssen dann ausgleichen. Die Sozis können froh sein, wenn die hier noch kleben und tagen dürfen, da müssen sie dann schon Abbitte leisten!“

Die Sitzung ging langsam zu Ende, ich rieb mir verwundert die Augen, es war bereits sieben. Ich bestellte mir noch ein Bier und wartete gespannt auf die Ankunft des Jesters…

Jester‘s Door : Ankunft des Narren (2)

Ich hatte mir ein weiteres Bier bestellt, setzte mich zurück an den Tresen und schaute mich um. Die beiden schachspielenden Männer saßen immer noch vor ihrem Brett, jeder einen Becher Kaffee neben sich. Ich konnte wirklich nicht sagen, ob auch nur eine Figur auf dem Brett ihre Position verändert hatte, die beiden Männer schienen sich jedenfalls nicht zu regen. Ein paar Studentinnen saßen an einem anderen Tisch und diskutierten bei Kaffee und Wein über die postmoderne Literaturtheorie. Klang alles ziemlich halbwissend, aber na ja.

Mein Bier war inzwischen leer und ich brauchte mal eine Pause, drehte mich zu Jens und dem Timemaster um, die sich gerade über die weitere Musikauswahl für den Abend unterhielten. „Kann ich eine Tasse Kaffee haben und noch so eine gemischte Platte mit Häppchen?“ Sekunden später drehte sich Jens um und knallte mir einen großen Becher Kaffee mit der Aufschrift „Sex or Revolution? Why not having both?“ vor die Nase. „Tassen gibt‘s hier nicht, und ja, Kaffee wird hier grundsätzlich schwarz getrunken, wir haben zu viele Grufties als Kunden, die woll‘n wir nicht vergraulen!“ Ich schluckte. Ein Blick auf die Karte sagte mir, dass der Becher lediglich fünfzig Cents kostete, da konnte ich mich nun schlecht beschweren. Der Timemaster brachte mir auch schon den gemischten Snackteller. Ich fragte möglichst freundlich: „Nennen die sich noch Grufties? Ich dachte die heißen jetzt Goths?“ Das war ein schwerer Fehler. Jens explodierte fast: „Goths? Vertell hier nich so nen Blödsinn. Dat sind und bleiben Grufties. So nen modischen Neusprech lassen wir hier nich zu. Und jetzt mach den Kopp zu und trink Kaffee!“

Ich trank also brav den Kaffee, der in der Tat verdammt gut schmeckte, und wartete. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, eine merkwürdige Gestalt trat ein, die sich in einer Art Selbstgespräch selbst zu beschimpfen schien. Er trug ein schillernd grünes Sacko, Jeans, Turnschuhe sowie eine skurril anmutende Hornbrille. Leicht nach vorn übergebeugt lief er zunächst im Eingangsbereich der Kneipe hin und her, dann im Kreis, mit sich selbst im Dialog: „Nee, nee, nee, das darf doch nicht wahr sein! was für ein Idiot bist du eigentlich? Nur Arschlöcher, Ausbeuter, Blutsauger! Alles Wixer! Ich muss damit aufhören“ Dabei schüttelte er ständig seinen Kopf. Der Timemaster hatte in der Zwischenzeit drei frisch gezapfte Pints Guiness an einen bislang leeren Platz der Theke positioniert. Die Gestalt sah kurz auf, erblickte die Biere und steuerte zielstrebig auf die Theke zu, um im Hinsetzen bereits das erste Glas zu leeren.

Ich beugte mich zu Jens vor und flüsterte ungläubig: „Ist das etwa der Jester?“. Jens lächelte amüsiert und zwinkerte: „Jo, das isser. Leibhaftiger geht‘s nich“. Die anderen Gäste schienen sich nicht weiter für diesen Auftritt zu interessieren, offenbar geschah das tatsächlich regelmäßig. Ich betrachtete den Jester genauer, das zweite Glas war schon fast leer. Er bemerkte meinen Blick, musterte mich. „Neu hier?“ baffte er mich an. „Äh, jjaaa“ stammelte ich. Er nickte, leerte das Glas und griff sich das dritte Pint. „Beste Kneipe der Welt. Mein Refugium. Den Irrsinn außerhalb des Jester‘s Door ertrage ich kaum noch, ich brauche immer drei Bier, bevor ich mich beruhigt habe.“ Ich nickte. „Ah, ok, verstehe“ – dabei verstand ich gar nichts. Der Timemaster beugte sich zu mir vor und flüsterte: „Der Jester ist in der Werbebranche, aber eigentlich Sozialist im Herzen. Der hält den inneren Widerspruch nich aus, aber dat wirste schon noch zu hören bekommen.“ Ich bestellte mir einen weiteren Kaffee.

Dann begann der Jester wieder zu reden, halb mit mir, halb mit sich selbst. Er redete und trank in einer unglaublichen Geschwindigkeit, stoßweise schluckte er das Bier herunter. „Ich verkaufe meine Seele, jeden Tag. Ich mache Werbung für Medikamente, Versicherungen, Banken – nenne etwas Böses, ich bewerbe es!“. Er wurde bei seiner Tirade beinahe hysterisch. „Ich lege Ihnen Werbeanzeigen vor, die sie entlarven, enttarnen sollen – und sie finden sie großartig! Das spreche ein junges und aufgeklärtes Publikum an. Nein, nein, selbst die Wahrheit ist zu nichts anderem als Unterhaltung verkommen. Traurig, traurig.“ Er wurde still, schaute in sein Glas, leerte es, der Timemaster war sofort mit einem neuen Glas zur Stelle. Ich fragte ihn direkt, wieso sie ihn denn denn „Jester“ und nicht Narren nannten? Er lächelte: „Eigentlich begann es mit meiner Leidenschaft für Marillion. Die haben auf ihren ersten Plattencovern immer eine Narrenkappe drauf gehabt. Na ja, und im Moment fühle ich mich auch wie ein Hofnarr der Wirtschaft – und die Werbung spricht ja eh englisch.“ Er seufzte. „nee, nee, nee, das ist all das Geld nicht wert. Ich schäme mich dafür. Ich vertrinke den größten Teil meines Geldes hier, als Selbstgeißelung – und weil ich so das letzte bißchen Heimat erhalte“ Er brummte vor sich hin, Jens und der Timemaster schüttelten mit dem Kopf und arbeiteten weiter.

Ich drehte mich um, mittlerweile schwirrte mir der Kopf. Die Kneipe hatte sich gefüllt. Ich fragte Jens, ob es noch Livemusik geben würde. „Jo, gibt es. Jeden Abend. Immer dieselbe.“ Ich schaute ihn etwas verdutzt an: „Dieselbe?“ fragte ich nach. Der Timemaster klärte mich auf: „Wir haben hier die BAND. Was besseres gibt es nich, und was anderes könnten wir uns och nich leisten. Ab und an bringen die mal Freunde mit, aber mehr zum Jammen.“ Aha, dachte ich bei mir. Hier wunderte mich gar nichts mehr. Plötzlich sprang der Jester auf, kletterte auf den Tresen und rief: „Genossen und Genossinnen, die nächste Runde geht auf mich! Seht es als Buße für meine kapitalistischen Sünden..“ Mit gesenktem Kopf stand er da, während alles zur Theke stürmte. Mit erstaunlicher Gelassenheit fertigten Jens und der Timemaster die Freirunde ab. Dann wechselte der Timemaster die Musik, es erklang „Script for a Jester‘s Tear“, wie ich später erfuhr, und prompt sang der Jester, mit Tränen in den Augen. Die anderen Stammgäste sammelten sich um ihn, und stimmten bei der Strophe „I act the role in classic style of a martyr carved with twisted smile; To bleed the lyric for this song to write the rites to right my wrongs; An epitaph to a broken dream to exorcise this silent scream; A scream that’s borne from sorrow“ lauthals mit ein. Ein unheimlicher, trauriger und mitfühlender Chorus, der in einem lauten „Hail the Jester“ endete. Alle hoben das Glas und prosteten sich zu.

Der Jester wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und stieg von der Theke runter, die anderen Gäste nahmen langsam wieder Platz. Ich fragte den Timemaster, ob das jeden Abend so sei? „Nee, heute geht‘s ihm besonders schlecht. Passiert so ein- bis zweimal die Woche. Da hilft dann nur sein Lied“. Hmm, nach dem Auftritt war ich auf die BAND doch sehr gespannt. Waren die Verrücktheiten noch zu Steigern? Ich nahm mir noch einen Kaffee, und der Jester trank und trank…

 

DIE BAND

Ich saß noch immer an der Theke des Jester‘s Door, trank meinen Kaffee und wartete gespannt auf die Dinge, die noch kommen würden. Jetzt war ich schon seit über vier Stunden in dieser Kneipe, in die mich ein Zufall, ihr absurder Name und das verwitterte Kneipenschild hineingetragen hatten. Es wurde nun immer voller, was vor allem daran lag, das die BAND gerade aufbaute und dabei über die kleine Bühne hinaus einigen Platz in Anspruch nahm. Ich betrachtete das Schachbrett, auf dem sich seit Stunden offensichtlich nichts bewegt hatte. Lediglich die Bärte der beiden greisen Spieler schienen länger geworden zu sein.

Am anderen Ende der Theke hatte sich der Jester in eine langwierige Diskussion über die Kommerzialisierung der Independant-Musik verwickelt, eine Auseinandersetzung, die durch den zunehmenden Alkoholpegel weder strukturierter noch logischer wurde. Mittlerweile handelte es sich eher um einen Monolog, und die beiden Zuhörer und ehemaligen Mit-Diskutanten nickten nurmehr mit dem Kopf, offensichtlich leicht genervt und nach einem Ausweg aus dieser Unterhaltung suchend.

Bambam! Das Schlagzeug hatte gesprochen, die Menschen starrten zur Bühne. Die BAND war fertig mit dem Aufbauen und es wurde leiser im Raum. „So, Leute, seid ihr bereit für „Worker‘s voice“?“ schrie der Sänger ins Publikum. Die Anwesenden murmelten begrenzt begeistert Dinge wie „Jo“ oder „wat denkt der denn“, aber das schien den Sänger, ein schmächtiger, langmähniger Typ in Heavy-Metal-Kluft, nicht weiter zu stören. „Na, dann legen wir los!“ schrie er erneut ins Mikro, doch bevor der Schlagzeuger, ein zotteliger Bär, der „das Tier“ aus der Muppetshow wie einen Abklatsch aussehen ließ, einzählen konnte, meldete sich aus dem hinteren Teil der Kneipe ein Gast lauthals zu Worte, der in Lederjacke und Jeans aussah wie ein typischer altlinker Studienrat: „Moment! Erstmal sind wir Genossinnen und Genossen, und nicht Leute, und außerdem ist es nicht demokratisch-sozialistisch, wenn Ihr hier ohne Basisbefragung einfach bestimmt, was ihr spielt. Das ist doch der Beginn der kapitalistischen Unterjochung, denn…grmpf“. Die beiden Wirte hatten gemeinsam mit einigen der Billard spielenden Punks den Störenfried unter dem Beifall der Gäste zum Schweigen gebracht. Er durfte den den weiteren Abend gefesselt auf einem Stuhl verbringen, mit einem Spezialbewacher, der ihm jedes Mal Bier einflößte, wenn er wieder den Mund aufmachte.

Die BAND konnte nun anfangen, ca. 20 Zuhörer standen direkt vor der Bühne und lauschten dieser Mixtur aus Covern klassischer Rocksongs, Ton-Steine-Scherben Varianten und eigenen Liedern, die sich vor allem durch Textanleihen aus Arbeiterlyrik und starken Bass- und Schlagzeugelementen auszeichneten. Insgesamt etwas amteurhaft aber sehr unterhaltsam, und das offenbar sehr textsichere Publikum wurde mit Dauer des Konzerts immer lauter. Es gab zwischen den Liedern selbstverständlich weiter Kommentare wie „Die waren auch schon mal besser!“ oder „das konnten sie gestern schon nicht und heute noch weniger“, aber insgesamt schien die Atmosphäre ganz gut zu sein. Ich wandte mich an Jens, um noch was zu trinken zu bestellen. „Wie oft spielen die hier?“ fragte ich ihn, und er schaute mich etwas verzweifelt an. „Jeden Abend. Jeden Abend die gleichen Lieder, ich kann es nicht mehr hören. Aber wenn wir sie nicht spielen lassen, verlieren wir die Hälfte unserer Kunden. Kurz nach Mitternacht ist Schluss mit dem Konzert, und Du siehst ja, es wird immer voller. Die Leute kommen für die letzten beiden Songs – man gut, dat is bald vorbei!“ Der Timemaster schaute auch ziemlich genervt drein, während er einer ziemlich alternativ gekleideten Frau in grüner Lederjacke erklärte, dass sie auch in sozialistischen Pubs für das Bier zahlen müsse. Dafür sei das Bier aber deutlich billiger als sonstwo.

Ich wandte mich wieder dem Konzert zu, das „Tier“ am Schlagzeug drehte gerade richtig auf, während das Publikum immer lauter einen Song namens „Worker‘s Welfare“ und die Internationale forderten.

Plötzlich wurde die Tür weit geöffnet, und zwei Punks schoben einen ca. 90 jährigen Mann in einem Rollstuhl in die Kneipe. Er wurde von den Umstehenden mit einem Kopfnicken begrüßt, während er mit seinem Stock auf den Boden schlug. Es war jetzt kurz vor Mitternacht, die BAND machte eine theatralische Pause und der Sänger versuchte die Stimmung anzuheizen, in dem er das Publikum fragte, was sie hören wollten. Statt begeisterten Rufen bekam er aber nun lediglich Sachen zu hören wie „Das weißt Du doch!“, „Das gleiche wie gestern – und vorgestern – und …“ oder „laß den Quatsch und spielt endlich weiter“. Etwas konsterniert blickte der Sänger in die Runde, der Bassist zuckte mit den Schultern und begann mit den ersten Takten von „Worker‘s Welfare“. Die gesamte Kneipe sang mit, nur ich und ein paar Studenten an einem Tisch hinter mir schienen neu zu sein und kannten den Text daher nicht. Der Jester stand nun wieder auf dem Tresen und vollführte einen aberwitzigen Tanz, während ich versuchte, halbwegs zu verstehen, was da nun gegrölt wurde. Es schien ein nostalgischer Klassenkampfsong zu sein, ich verstand Fetzen wie „We are the Worker‘s Welfare, we are here for you“, „united in our struggle for justice, we take from the rich and give to the poor“ oder „free the people from slavery, cause we are slaves of money and greed“. Genau war das alles nicht zu verstehen, aber offenbar war es so etwas wie der Erkennungssong der BAND. Ich sah einige Leute, die sogar Tränen in den Augen hatten, darunter auch der mittlerweile wieder freigelassene Studienrattyp in seiner Lederjacke.

Am Ende des Liedes nahmen alle ihre Gläser, die letzten Töne klangen aus, es wurde still im Raum. Der Timemaster dimmte das Licht noch weiter, und der Sänger hauchte ins Mikro: „Kurt, warum sind wir hier?“ Der Alte im Rollstuhl erhob sich, stützte sich auf seinen Stock und krächzte: „Aus Respekt vor den Leidenden, den Gefallenen, all jenen, denen Unrecht widerfährt, die Ausgebeutet werden. Mögen wir Ihnen bald Gerechtigkeit widerfahren lassen und das kapitalistische Elend beenden! Hoch die Internationale Solidarität“ Da erhoben alle ihre Gläser, tranken auf die Internationale Solidarität, und die BAND spielte „die Internationale“. Jeder sang mit, ich auch, man konnte sich nicht dagegen wehren, und am Ende des Liedes waren alle auf den Beinen, nickten sich zu, klatschten sich ab. Das Konzert war beendet, und ich setzte mich an einen Tisch mit den beiden Punks, die den alten Kurt hereingebracht hatten. „Ist das jeden Abend so?“ fragte ich sie. Der Kräftigere, der den Rollstuhl geschoben hatte, antwortete: „Ja, jeden Abend. Kurt hat als Jugendlicher im Untergrund gegen die Nazis gekämpft. Er ist so was wie ein Maskottchen hier – aber eigentlich kommt er jeden Abend nur deshalb runter, weil er vor Ende des Konzerts ohnehin nicht schlafen kann.“ Er grinste. Sein Kumpel ergänzte: „Meines Wissens geht hier nie jemand in der Gegend vor Mitternacht ins Bett, das Gegröle ist einfach zu laut und übertönt jede noch so schwachsinnige Volksmusiksendung um Längen. Hehe“ Sie schauten zu Kurt, der offenbar ins Bett wollte, und standen auf. Ich ging zurück an den Tresen und zu meinem Kaffee, war noch zu aufgewühlt, um nach Hause zu gehen.

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