Abgeschieden

Die Aussicht muss atemberaubend sein, dachte er bei sich, während er hinaus in den Schneesturm schaute. Irgendwo hinter den Scheiben, hinter den Schneewolken musste das Tal, mussten die Berge liegen. An diesem Tage würde er sie wohl nicht zu sehen bekommen. Er seufzte, nahm seinen Kaffee und lauschte den schneegedämpften Geräuschen des Hauses.

Irgendwo knarrte es, nichts beunruhigendes, das Chalet war gerade erst fertiggestellt worden. Es war groß, viel zu groß, um einfach Skihütte genannt zu werden. Er schlurfte an seinem Instantkaffee, für ihn eigentlich ein Sakrileg, doch an diesem Ort irgendwie passend. Auf jeden Fall wärmte er. Ihm war kalt, weniger körperlich, vielmehr wurde die Einsamkeit des Gebäudes langsam unheimlich.

Sie hatten sich vor Stunden aufgemacht, es wurde spät und die Dunkelheit setzte ein. Er wäre gern mit Ihnen gegangen, doch seine Wintersportfähigkeiten reichten nicht aus, um bei diesem Wetter auf die Piste zu gehen. Also war er daheim geblieben, hatte sich um den Abwasch gekümmert und die Blessuren des Vortages gepflegt. Er schaute hinaus, beschloß, das alles in Ordnung sein müsse und nahm sein Buch zur Hand. Zehn Minuten später war er auf der Couch eingeschlafen, sein Buch auf der Brust und den halb geleerten Becher Kaffee neben sich.

Nichts als Dunkelheit. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder. Kein Unterschied. Tastend fand er sein Handy, es war bereits 20 Uhr. Keine Nachrichten, kein Anruf. Er lauschte. Nichts. Die Skipisten hatten um vier Uhr geschlossen, seine Freunde müssten schon seit Stunden wieder zurück sein. Er stand auf, machte Licht. Kein Zettel, keine leeren Tassen. Kein Anzeichen dafür, dass außer ihm jemand im Haus gewesen war.

Festen Schrittes ging er zurück zum Sofa, nahm sein Handy. Wählte die erste Nummer, die zweite, die Dritte. Stets nur ein Anrufbeantworter. Er ging zum Fenster, blickte hinaus. Der Schneesturm hatte sich gelegt. Doch in der Dunkelheit war nichts zu erkennen, nur weit entfernte Lichter anderer Hütten.

Bedächtig setzte er den Wasserkocher auf, bereitete seinen Kaffee vor. Er wurde ruhiger, zupfte an seinem Ohrläppchen. Er nahm den Kaffee, zog seine Schuhe an und ging vor die Tür. Nichts war zu sehen, keine Fußspuren im Neuschnee, nichts. Er ging zurück, nahm sein Handy zur Hand. Keine Lawinenmeldungen, keine sonstigen Unglücke.

Er rief eine weitere Nummer an, nichts. Zwölf Menschen konnten doch nicht einfach so verschwinden? Er war noch dabei, die Nummer der örtlichen Polizei rauszusuchen, als das Licht ausging. Alles war in geräuschlose Schwärze gehüllt, das einzige Geräusch sein schlagendes Herz. Stolpernd erreichte er das Fenster. Kein Licht war mehr zu sehen, auch nicht in der Ferne.

Plötzlich schreckte ihn ein lautes Scharren auf, gefolgt von einem schleifenden, seufzenden Geräusch. Es war nicht zuzuordnen, schien aber aus Richtung Haustür zu kommen. Sein Telefon als Taschenlampe benutzend, fand er ein Brotmesser und schlich durch das Haus, erreichte die Tür. Sein Verstand sagte ihm, dass er kindisch war, dass nur seine Freunde endlich wieder da wären. Doch sein Gefühl, sein Blut schrie Gefahr, alles in ihm sträubte sich dagegen, die Tür zu öffnen. Irgendetwas mußte da draußen sein, unaussprechlich, nicht faßbar.

Er streckte die Hand aus, die Tür öffnete sich. Die Nacht hatte, was sie wollte: Seine Furcht.

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