Ertrinkende im Mittelmeer: Ein Gipfel der Doppelmoral
Nach den Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer trifft sich nun am morgigen Donnerstag der Europäische Rat in Brüssel. Einziger inhaltlicher Tagesordnungspunkt ist die Beratung von Maßnahmen „zur Verbesserung der Situation“ im Mittelmeer, wie es auf der Seite des Rates heißt. Die Beratungen erfolgen auf Grundlage eines von der EU-Kommission erstellten „10-Punkte Plans„, den die europäischen Außen- und Innenminister am Montag auf einer gemeinsamen Sitzung bereits begrüßt hatten. Dass dieser Plan hinter Punkt 1 vor allem wieder Abschreckungsmaßnahmen und die Abschiebung von Verantwortlichkeiten behandelt, ist symptomatisch für die Haltung der Europäischen Regierungen. Die zynisch gelebte Doppelmoral erreicht bei den jährlich wiederkehrenden Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer ihren Höhepunkt und findet ihren Ausdruck in zur Schau getragener Trauer um die Toten – „tragisch“, wie es auf der Homepage des Rates heißt.
Natürlich ist nichts daran tragisch, es sind einkalkulierte „Kollateralschäden“, es sind menschliche Opfer einer Politik, die Menschenrechte und Menschenleben nur noch achtet, wenn es gerade in die Landschaft passt. Nein, der Tod von Flüchtlingen wurde mindestens grob fahrlässig in Kauf genommen, wenn nicht mutwillig einkalkuliert. Wenn wir morgen die Bilder betroffener Regierungschefs sehen, werden sie keinen Gedanken daran verschwenden, dass ihre eigenen Innenminister seit Jahren einen besseren Schutz der Flüchtlinge verhindern, nicht gegen Menschenhändler vorgegangen sind und die europäischen Standards im Asyl- und Flüchtlingsrecht bewusst nicht erfüllen. Auch die Europäische Kommission hat sich wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert, sie hat weder die notwendigen Mittel für die Schutzmissionen im Mittelmeer durchgesetzt, noch kontrolliert sie die Umsetzung der europäischen Standards im Flüchtlingsrecht. Doch der Gipfel der Unverschämtheit sind Regierungen der Mitgliedsländer, allen voran Deutschlands, die weder ausreichend Hilfe für Flüchtlinge in ihren Mitgliedsregionen leisten, noch ihre eigenen Versprechen im Bereich der Entwicklungshilfe erfüllen, weder angemessene Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen walten lassen, noch zu den eigenen menschenrechtlichen Verpflichtungen stehen.
Der morgige Gipfel wird daher an Heuchelei nicht zu überbieten sein. Es scheint, als seien Bürger- und Menschenrechte für die heutigen Regierungen keine Verpflichtung mehr, sondern ein Spielball politischer Opportunität – eine Haltung, für die ich mich zutiefst schäme. Die Opfer von Terror und Diktatur, die Lehren von Aufklärung und Humanismus, die Werte unserer Verfassungen, sie alle scheinen politisch in Vergessenheit geraten zu sein. Nur morgen wird die Erinnerung wieder kurz aufgetragen, wie ein billiges Deo, dessen Duft mit den nächsten Schlagzeilen verfliegt.