Von Biedermännern und Brandstiftern

Flensburg, ein dunkler Abend im Spätherbst. Wir waren 15, vielleicht 16 Jahre alt damals, als wir ihn stellten. Er war unscheinbar, er war auf unserer Schule, er war ein Nazi. Wir hatten ihn gesehen, wie er seine rassistische Propaganda in der Innenstadt verbreitete, anpappte, aufklebte. Wir waren zu dritt, vielleicht auch zu viert. Wir schritten ein, kreisten ihn ein, nahmen ihm sein Material ab, er widersprach, wir drohten mit Anzeige. Es war gefährlich, nicht in diesem Moment, aber er hatte gewaltbereite Freunde. Später sollte der Staatsschutz sein Haus durchsuchen, nachdem dieser Mitschüler Chemikalien aus dem Schullabor gestohlen hatte. In Chemie war er gut, Bomben hätte er herstellen können, auch ohne Internet. Wir dachten nicht darüber nach, damals, und rissen Aufkleber und Flyer ab, „Jud‘ süß“ stand auf einem, das Hakenkreuz prangte daneben.

Das war zu Beginn der 90er Jahre. Mit Unbehagen hatte unser linkes, westdeutsches Empfinden die Einheit begleitet, aus Angst vor dem Aufflammen eines neuen deutschen Nationalismus. Unsere Furcht war berechtigt, die Gewalt gegen Ausländer begann: Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Lübeck – Gewalt, Tod, Schrecken zogen sich über das Land. Es war natürlich die Schuld der „Asylanten“, die „massenhaft nach Deutschland kamen um das Asylrecht zu mißbrauchen“. Die Opfer als Täter, eine Schablone für die „Döner-Morde“. Die erste große Welle rechtsextremer Gewalt wurde zum Desaster der Demokratie: Die SPD ließ sich den Asylkompromiss aufzwingen, getrieben vom bürgerlichen Lager und der Springer-Presse.

In der Folge entwickelten sich „sächsische Verhältnisse“ und „national befreite Zonen“. Rechtsextremes Gedankengut arbeitete sich vor, in die Mitte der Gesellschaft, am Ende ein Sarrazin, der mit seinen Ausflügen in die Genetik an die sozial-darwinistischen Ideen des 19.und 20.Jahrhunderts anknüpft. Menschliches Leben ist danach offenbar unterschiedlich viel wert. In dieser Logik sind die Opfer selbst Schuld oder gewaltsame Übergriffe werden zu einer unscheinbaren Randnotiz, wie es schon 1992 von Heinz-Rudolf Kunze sehr anschaulich vertont wurde.  Diese Sichtweise ist schon längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wieder, möchte man sagen. Überzeugt von der Überlegenheit „deutscher Tugenden“ befeuert das Blatt mit den vier großen Buchstaben gemeinsam mit so manchem Fernsehsender Vorurteile gegenüber „Ausländern“ oder „Asozialen“. Kein Wunder, dass die Trauer um die Toten merkwürdig verhalten bleibt, wie Anetta Kahane in der Zeit schreibt: Die einen wollen ihr Weltbild nicht in Frage stellen, die anderen haben schon lange resigniert. Was soll man in einem Land erreichen, in dem Millionen Menschen „Deutschland schafft sich ab“ kaufen? Ist da nicht jedes Engagement vergebliche Liebesmühe?

Nein, denn wo jedes verkaufte Sarrazin-Werk Wasser auf die Mühlen rassistischer Bewegungen ist, deren Gewalttäter sich oft als „Vollstrecker“ des Willens einer schweigenden Mehrheit sehen, da dürfen wir nicht resignieren. Im Grundgesetz heißt es ja „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, nicht die „des Deutschen“. Menschen dürfen anders sein, aber jeder Mensch, jedes Leben hat den gleichen Wert – und ist daher wert zu schätzen. Um 58 Opfer rechtsextremer Gewalt wurde heute getrauert, es sind wohl mindestens dreimal so viele, wie Panorama berichtet. Jeder Tote ist einer zu viel, jeder Übergriff ein weiterer Grund, sich noch engagierter gegen diese Gewalttäter und ihre Ideologie zu engagieren. Dass ausgerechnet in diesen Zeiten den Projekten gegen Rechts ein Gesinnungs-TÜV auferlegt wird, verhöhnt diejenigen, die für eine freie, demokratische Gesellschaft einstehen – ein unerträglicher Zustand.

Übrigens: Damals, Anfang der 90er, da wurden wir auch mit den guten alten, deutschen Werten konfrontiert. Als wir durch die Stadt liefen und die Aufkleber runterrissen, die Hakenkreuze, die „Jud Süss“ Sprüche, als wir den Hass von den Laternenpfählen kratzten. Ein Ehepaar, gehobene Mittelschicht, wollte uns davon abhalten. Da wurde ernsthaft gefragt, ob wir dazu eine Berechtigung hätten, das sei ja anderer Leute Eigentum. – „Biedermeier und die Brandstifter“ sind allgegenwärtig. Das muss sich ändern. Schnell.

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